Diebstahl

Stasi

Ein Wirtschaftskrimi

Operation Kristall

Wie die DDR mit gestohlenem Saatgut versuchte, Anschluss an das Spitzenniveau westlicher Zuckerrübenzüchtung zu finden.

Kurz vor dem Morgengrauen an einem regnerisch-trüben Tag im Oktober 1985: An der Autobahnabfahrt Magdeburg-Industriegelände verlässt ein schmutzig-weißer Siebentonner mit niederländischem Kennzeichen die Transitautobahn A2 und holpert über eine unebene Kopfsteinpflasterstraße in südliche Richtung. Nach knapp siebenhundert Metern zeichnen sich auf der linken Seite die Umrisse einer großen Lagerhalle ab, auf die das Fahrzeug nun zusteuert. Der Fahrer blendet dreimal kurz, zweimal lang auf und mit leisem Quietschen gleitet das rostfarbene Rolltor der Lagerhalle zur Seite. Im Inneren des mit ausgemusterten alten Landmaschinen vollgestellten Lagerraums wartet ein etwa 45-jähriger Mann in einem hellblauen Planlastwagen der russischen Marke GAZ. Möglichst dicht rangiert der Holländer nun an den Lkw heran.

Die beiden Männer steigen aus, schütteln sich kurz die Hand und beginnen schweigend, offenbar schwere, graubraune Säcke aus dem holländischen in den anderen Wagen umzuladen: insgesamt rund fünfzig Stück. Nach knapp einer Stunde ist die Transaktion beendet. Der holländische Fahrer nimmt eine braune Papiertüte entgegen, wirft einen kurzen Blick hinein, setzt sich in sein Fahrzeug, rumpelt davon und entschwindet im immer noch grauen Morgendunst.

So oder so ähnlich könnte der wahrscheinlich größte und dreisteste Saatgutdiebstahl in der Geschichte der Zuckerrübenzüchtung abgelaufen sein. Der ersten Übergabe im Herbst 1985 folgten bis 1989 zahlreiche weitere konspirative Treffen dieser Art in der Gegend rund um Magdeburg. Dabei kamen in größeren und kleineren Partien insgesamt rund vier Tonnen Zuckerrübensaatgut und ausführliche Dokumentationen zur Qualität und Beschaffenheit des übergebenen Materials illegal in die DDR. Wo kam das Saatgut her? Wer steckte dahinter und was bezweckten diese riskanten Transaktionen?

Klein Wanzlebener Zeitzeuge

Der Anstoß, diesen Fragen nachzugehen, kam von Erhard Junghans. Bis 2016 bei KWS in Klein Wanzleben beschäftigt, ist er bis heute so etwas wie das historische Gedächtnis für die Klein Wanzlebener Geschichte der KWS. Der Zuckertechnologe stieß bereits 2016 beim Besuch einer Wanderausstellung in Magdeburg zufällig auf eine Tafel „Geheime Rüben“, die einige wenige Informationen zu einem offenbar von der Stasi mitorganisierten Saatgutdiebstahl preisgab. Neugierig geworden, informierte er KWS über die Dokumentation und äußerte den Verdacht, dass das Zuckerrübensaatgut damals bei KWS entwendet worden sein könnte. Schließlich erhielten er, Wolfgang Joachim, seit der Wende bis zu seiner Pensionierung 2016 Leiter der KWS Station in Klein Wanzleben und aktuell dort KWS Archivar, und die Historikerin Betina Meißner nach einer langwierigen Beantragungsprozedur im Mai 2018 Einsicht in die Stasiunterlagen zur „Operation Kristall“.

Aus einem Bericht zum Stand der „Operation Kristall“, Oktober 1985. Akten des BStU, Standort Magdeburg

Unter diesem Decknamen hatten das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und der volkseigene Betrieb Saat- und Pflanzgut den Diebstahl des Zuckerrübensaatguts unter höchster Geheimhaltungsstufe organisiert. Während die eigenen Forschungen der DDR am Institut für Rübenforschung (IfR) gut abgeschirmt wurden, schreckte der Staat nicht davor zurück, Forschungsergebnisse des nichtsozialistischen Auslands abzuschöpfen. Fast 1000 Seiten Stasiakten zur „Operation Kristall“ belegen, wer, was, wann und warum getan hat, obwohl viele sicherlich aufschlussreiche Details und Personenangaben aus Datenschutzgründen geschwärzt wurden.

Geheimaktion Zuckerrübe

Die Zuckerrübenzüchtung in der DDR stand ab Anfang der 1980er Jahre unter ständiger Kritik der politischen Führung. Der Zuckergehalt in den Rüben war zu niedrig, der Zuckerertrag pro Hektar war teilweise nur halb so hoch wie in der Bundesrepublik. An diesen Fakten änderte sich trotz aller Bemühungen um Ursachenforschung und Verbesserungen nichts. Der Auftrag aus dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft war deutlich formuliert: Es galt, den Rückstand zum Klassenfeind aufzuholen. Und so witterten die Verantwortlichen Morgenluft, als ihnen von einem holländischen Saatguthändler im April 1985 erstmals illegal erworbenes Hochleistungssaatgut angeboten wurde.

Da die „Operation Kristall“ unter höchster Geheimhaltungsstufe organisiert wurde, war nur ein kleiner Kreis in vollem Umfang in diese „Mission“ eingeweiht. Bei der Staatssicherheit saßen diejenigen, die für die Geheimhaltung und teilweise für die Organisation der Transaktionen verantwortlich waren, in der Hauptabteilung XVIII. Diese Abteilung hatte den Auftrag, die Volkswirtschaft der DDR zu sichern. Hier, in der Unterabteilung 6, gingen alle Berichte der inoffiziellen Mitarbeiter zum Stand der Geheimaktion Zuckerrübe ein und wurden von dort der Ministerebene unterbreitet.

Auftrag an die Kreisdienststelle der Stasi in Klein Wanzleben 1985 zur Überprüfung der gelisteten Personen (Namen geschwärzt) durch den IM „Markgraf“ (WtA = wissenschaftlich-technische Auswertung)

Die Hauptakteure und Drahtzieher der „Operation Kristall“ saßen in der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Saat- und Pflanzgut in Quedlinburg bzw. Berlin und im Institut für Rübenforschung in Klein Wanzleben. Die Aufgaben waren klar verteilt. Nur die VVB Saat- und Pflanzgut durfte im Bereich Pflanzenzüchtung mit dem nichtsozialistischen Ausland Handel treiben und hatte die entsprechenden Kontakte. Während die beiden inoffiziellen Mitarbeiter (IM) „Moosdorf“ und „Werner Schulze“, leitende Mitarbeiter in der VVB Saat- und Pflanzgut Quedlinburg und im Außenhandelsbetrieb Nahrung Berlin, den Auftrag hatten, das Material zu beschaffen und die Herkunft zu verschleiern, lag die Hauptverantwortung für den erwünschten züchterischen Erfolg der „Operation Kristall“ bei IM „Heinz Oertel“, dem Chefzüchter im Institut für Rübenforschung (IfR).

IM „Heinz Oertel“ verfasste in regelmäßigen Abständen seitenweise Berichte für seinen Führungsoffizier bei der Stasi, in denen er die Qualität des erhaltenen Materials beurteilte und ausführlich beschrieb, wie mit dem wertvollen Saatgut aus dem Westen weiter umgegangen wurde. „Heinz Oertel“ und seine teilweise in die Operation eingeweihten Vorgesetzten, alle inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, hatten bei der Weiterbearbeitung des Materials mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. Sie standen unter hohem Erfolgsdruck und mussten das so urplötzlich aufgetauchte Saatgut „unauffällig“ in die laufende Zuckerrübenzüchtung einbinden.

Die Rohware wurde über Quedlinburg ausgeliefert und offiziell hieß es, das Material einer unbekannten Monokarpiequelle stamme „aus einer bilateralen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion“. Das Saatgut musste zunächst aufbereitet werden. Aus den Stasiakten geht eindeutig hervor, dass KWS nicht die Quelle des entwendeten Materials war. Das in die DDR geschmuggelte Saatgut gehörte einem schwedischen Züchtungsunternehmen und war auf dessen Versuchsflächen in Holland gestohlen worden.

„Es galt, den Rückstand zum Klassenfeind aufzuholen.“


Sicherung des Geheimnisschutzes

16 Mitarbeiter aus dem IfR in Klein Wanzleben, darunter Chemiker, Züchter und Vermehrer, arbeiteten mit dem Saatgut aus der „Operation Kristall“, das ihnen verschlüsselt als Genpool 2 zur Verfügung gestellt wurde. Bereits im Oktober 1985, als die Operation gerade anlief, erhielt IM „Markgraf“ den Auftrag, alle im IfR Beschäftigten zur „Sicherung des Geheimnisschutzes“ zu überprüfen. 14 IM und vier GMS (gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit) untersuchten alle Aktivitäten am IfR und berichteten regelmäßig ihren Führungsoffizieren.

Eine verschärfte, besonders arglistige Variante der alltäglichen Bespitzelung war die operative Personenkon­trolle (OPK). Erhard Junghans, damals im Klein Wanzlebener Institut für die chemischen Analysen des Zuchtmaterials zuständig, weiß, was das bedeutet. Ende Januar 1986 leitete die Kreisdienststelle der Stasi in Wanzleben auf Anregung von zwei seiner Abteilungsleiterkollegen eine OPK gegen ihn ein. Er stand im Verdacht, Untersuchungsergebnisse im Rübenlabor gefälscht und damit Fortschritte in der Züchtung be-, wenn nicht verhindert zu haben. Viel Aufwand wurde damals betrieben, um Staatsversagen einzelnen „Schuldigen“ anzulasten.

Qualität für die Wissenschaftler

Wie Erhard Junghans 1997 aus seiner Stasiakte erfuhr, hatten fünf IM 14 Monate lang jeden Winkel seines Lebensumfeldes beschnüffelt, sein dienstliches Verhalten, seine Familie, Freundschaften, die Einstellung gegenüber dem sozialistischen Staat, Charakter, Freizeitbeschäftigungen, Freundeskreis. Der Abschlussbericht kam schließlich zu dem Ergebnis, dass er zwar politisch unzuverlässig sei, aber alle Arbeiten in hoher Qualität für die Wissenschaftler erledigt habe.

Die Erwartungen und Hoffnungen, die in den Erfolg der mit sehr großem Aufwand und unter Rückendeckung von „ganz oben“ durchgeführten „Operation Kristall“ gesetzt wurden, waren hoch – sehr hoch. In den Akten finden sich über die Jahre immer wieder geldwerte „Berechnungen“ über Umfang und Höhe der zu erwartenden Vorteile für die DDR-Wirtschaft.

Tonband­abschrift über ein Treffen von IME „Moosdorf“ mit seinem Lieferanten zur Saatgut­übergabe an der Autobahnausfahrt Magdeburg-Industriegelände am 25. Mai 1987

Kurzfristig sollte die Maßnahme Forschungseinsparungen von 50 Millionen DDR-Mark einbringen und weitere rund 34 Millionen über zu erwartende höhere Weißzuckererträge. Ein Gutachten von April 1986 urteilte über den zu erwartenden mittel- und langfristigen volkswirtschaftlichen und wissenschaftlichen Gewinn aus dem „bereitgestellten“ Saatgut: „Der Nutzen aus diesem Material für den Zeitraum von 1993–2000 wird mit 150–300 Millionen Mark eingeschätzt.“

Zuckerrübenzüchtung beruhte auf dem illegal erworbenen Genpool

1988 kam mit der Sorte Akzenta die erste aus dem beschafften Saatgut gezüchtete Hybridzuckerrübensorte in der DDR auf den Markt. Die gesamte Zuckerrübenzüchtung beruhte nun auf dem illegal erworbenen Genpool 2. Aber Akzenta und alle weiteren Sorten, die bis 1989 angemeldet wurden, blieben bei Leistungsprüfungen weiterhin rund zehn Prozent hinter den Ergebnissen westeuropäischer Sorten zurück. Die „Operation Kristall“ hat viel Geld gekostet: Insgesamt 2,25 Millionen Mark wurden für das erhaltene Saatgut bezahlt. Dazu kamen Schmiergelder und Prämienzahlungen an den Vermittler in unbekannter Höhe plus die aufwendigen Personalkosten, um den Geheimnisschutz zu wahren.

Mit dem Mauerfall hat der Lauf der Geschichte auch hinter diese „Operation“ einen Schlusspunkt gesetzt. Dass die mit hohem Aufwand von KWS betriebenen, mehrjährigen Prüfungen des in Klein Wanzleben vorhandenen Zuchtmaterials für Zuckerrüben in keinem Punkte bessere Ergebnisse zeigten als vergleichbare KWS Sorten, lässt nur einen Schluss zu: Die DDR hat damals keineswegs das versprochene Hochleistungssaatgut erhalten. Sie wurde übers Ohr gehauen. |


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