Liebe Leser,
als am 9. November 1989 die Mauer bröckelte und brach, kam ich abends von einer Auslandsreise zurück und verfolgte mit Edith, meiner Frau, fasziniert und teils unter Tränen die unglaublichen Ereignisse an den plötzlich offenen Grenzübergängen. Das Unvorstellbare war über Nacht gekommen. Dabei dachten wir natürlich vor allem an Klein Wanzleben.
Klein Wanzleben: geheimnisvoller Mythos, Ursprung unserer Familie und doch fremd zugleich. Ein Stück von uns, das uns nicht (mehr) gehörte. Mein Urururgroßvater Matthias Christian Rabbethge hatte dort 1847 als Landwirt den Grundstein unserer Familiengesellschaft gelegt, 1945 waren wir enteignet worden und alles wurde in Einbeck als KWS neu aufgebaut.
Zwischen KWS und dem zu DDR-Zeiten in Klein Wanzleben ansässigen Institut für Rübenforschung (IfR) hatten schon seit Beginn der 1980er Jahre Geschäftsbeziehungen bestanden und nun stand eine ganz besondere „Wiedervereinigung“ bevor. Bis heute trägt unser Unternehmen seinen Gründungsort im Namenskürzel, denn KWS steht für Klein Wanzlebener Saatzucht.
Drei Jahrzehnte sind nun seit der Wende vergangen und das Jubiläum ist ein willkommener Anlass, um einmal verschiedene Phasen dieses für die deutsche Zuckerrübenzüchtung so bedeutsamen Ortes nach 1945 bis in die Gegenwart zu beleuchten.
Erhard Junghans erinnert in seinem Beitrag an Mitarbeiter, die 1945 in Klein Wanzleben geblieben sind und deren Biografien durch staatliche Repressalien leidvoll gebrochen wurden. Die Zuckerrübenzüchtung der DDR blieb in Klein Wanzleben am Institut für Rübenforschung konzentriert. Zwei Artikel beleuchten, wie die DDR über Jahrzehnte versuchte in der Zuckerrübenzüchtung und Zuckerproduktion den Anschluss an die Weltspitze zu finden – auf legalem Weg, zum Beispiel über eine Partnerschaft mit KWS seit den 1980er Jahren, aber auch mit illegalen Mitteln. Betina Meißner hat über 1000 Seiten Stasiakten zur „Operation Kristall“ gesichtet, einem unter strengster Geheimhaltung über Jahre organisierten Saatgutdiebstahl, der alle Merkmale eines Wirtschaftskrimis aufweist und aufschlussreich die Arbeitsweise des Staatssicherheitsdienstes der DDR belegt. Seit 1991 hat KWS über 20 Millionen Euro in Klein Wanzleben investiert. Wolfgang Joachim zieht Bilanz, wie sich die Zuchtstation in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem zentralen Züchtungsstandort der KWS entwickelt hat.
Ich freue mich, dass wir als zukunftsorientiertes Unternehmen auch unserer Geschichte und Herkunft Raum geben, und danke Erhard Junghans und Wolfgang Joachim für ihre Initiative zu dieser Publikation.
Ihnen als Lesern wünsche ich, dem Mythos Klein Wanzleben näher zu kommen und sich gelegentlich selber vor Ort ein Bild zu machen,
Ihr
Die Autoren
Betina Meißner
Die Historikerin und Journalistin hat sich auf Unternehmensgeschichte spezialisiert und schreibt seit fast 15 Jahren regelmäßig für KWS.
Erhard Junghans
ist das historische Gedächtnis der KWS in Klein Wanzleben. 25 Jahre lang arbeitete der promovierte Zuckertechnologe im chemischen Labor des Instituts für Rübenzüchtung. Nach der Wende leitete er dort neun Jahre lang das Rübenlabor. Er sortierte und systematisierte bis 2016 das KWS Archiv vor Ort.
Wolfgang Joachim
Der promovierte Landwirt arbeitete bis zur Wende in Klein Wanzleben in der Zuckerrübenzüchtung und leitete von 1990 bis zu seiner Pensionierung die KWS Zuchtstation im Zuckerdorf.
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